semipermeabel
Grenzen schützen. Grenzen töten.
Semipermeable Kokreativität als das Humanum des 21. Jahrhunderts
Essay von Christian Hans Georg Schoppik
Seit seinem Ursprung in den Einzellern der Ursuppe ist Leben geschützt von einer semipermeablen Grenze. Leben ist das Prinzip der halbdurchlässigen, atmenden Membran. Äquilibrierte Balance der Lebenssäfte im Dialog von Innen und Außen. Der Fötus aber drängt wütend um sich schlagend zur Geburt, wenn es ihm zu eng wird, wenn die sauerstoffarme Plazenta ihn zu vergiften droht. So sind wir Künst- lerseelen vereint ebenso in der Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit wie in der vulkanischen Kraft des ästhetischen Schöpfungsaktes. Wir sind die Raupe, die aus der embryonalen Beschränkung in die selbstbestimmte Freie ausbrechen und zum Schmetterling werden will, bevor die mütterliche Schutzhülle zum Sargdeckel pervertiert und uns den letzten Atem nimmt. Ohne Grenzen kein Leben in Freiheit. Grenzen schützen. Wir erleben, wie Grenz- linien unter Beschuss geraten sind - von Staaten wie von mentalen Gewissheiten, Grenzen von Schutzräumen unserer Bequemlichkeiten, Grenzen von Bunkern und Echokammern unserer Koordinatensysteme. Aber neue Grenzen hoch zu ziehen, ist naiv. Der toxisch verseuchte Wutbürger will nur noch sich kennen und hat Angst vor multipolaren Interdependenzen, um nicht ganz altmodisch von Solidarität zu sprechen. Deshalb: Nicht Festung Europa, nicht America First, nicht zaristischer Imperialismus, nicht chinesischer Seidenstraßenkolonialismus. Aber auch nicht ein heimatloser, unbegrenzter Materialismus der identitätsarmen, weil geschichtsvergessenen Nomaden der Globalisierung. Determinationen der eigenen Herkunft verleugnet, Rückbindungen an individuelle Prägungen ver- drängt. Sozialisation, Geworfensein, Vergänglichkeit, Krankheit - alles Makel. Lei- den eine Belastung, Sterben eine Scham. Was bleibt ist der digitale Raum als Trutzburg, die analoge Brücke hochgezogen. In Wahrheit sind wir viel mehr Natur und Kultur. Von Heimat träumt, wer sie verloren hat. Was also ist die grenzüber- schreitende Erzählung der Völkerverständigung und des Humanismus im 21. Jahrhundert? Das ist auch eine Frage der Kunst als die universelle Weltsprache. 1 Das Gegenteil von Semipermeabilität ist Erstarrung. Austauschverlust ist der Tod. Leben entsteht aus dem grenzüberschreitenden Dialog der Verschmelzung. Das Prinzip von Eindringen und Empfangen braucht ein durchlässiges Trennsystem. Voraussetzung dafür ist eine atmende Grenze, aber keine Mauer. Das Neue setzt sich gegen Widerstand durch, aber stirbt in der Verklemmung. Doch weit und breit lebt man sich grenzenlos aus. Angst vor der Enge, aber keine Geburt. Und von wem auch zu Ende geboren? Angesichts des tosenden Lärms aufgeschreckt durch welches leises Singen. Provoziert durch welche Nuance. Durch welche Re- sonanzwelle in Raum und Zeit? Bitte, keine Einmischung in die inneren Angele- genheiten. Besiegt, befreit, vereinigt, befruchtet von wem? Vielmehr ängstlich ste- ckengeblieben zwischen der überwarmen Rotlichtenge der Gebärmutter und dem ersten Schmerz, der die Lungen entfaltet. Nie erwachsen geworden. Die Geburt der Demokratie vollzieht sich in einem geschützten Nahraum, in der Kommune, im Nationalstaat. Die Grenze und der Schlagbaum, die Flagge, die Hymne, die identitätsstiftende Kunst und der territoriale Rechtsraum. Noch wichti- ger in der Genese: Ohne Bindung der Einzelnen in einer Solidargemeinschaft kein Demos. Ohne ein überindividuelles Gemeinschaftsgefühl keine Unterwerfung der unterlegenen Minderheit gegenüber einer Mehrheitsentscheidung. Das Demos entsteht aus dem gegenseitigen Verstehen einer Sprache, geteilten Werten, be- geistert verfolgter gemeinsamer Ziele. Der Stolz auf sich selbst. Demokratie ist mehr als ein Vertrag von Interessen. Demokratie lebt von einem Wir. Von einem Innenraum. Toleranz entsteht aus dem Respekt vor der Grenzlinie des Unterschieds. Nicht aus totalitärer Gleichheit. Meinungsfreiheit adelt den Unterschied. Die Grenze zwi- schen These und Antithese, die Grenze zwischen Ich und Du. Grenzen schützen. Grenzen töten. Lebendige Toleranz stirbt mit dem Feindbild, mit der Abwertung des Unbekannten und der Angst vor dem Fremden ebenso wie mit grenzenloser Beliebigkeit und Selbstverleugnung aus innerer Schwäche. Abgrenzung ist eine Form von Selbstwirksamkeit gegen Verführung und Gewalt. Der Respekt vor dem Anderen beginnt beim Respekt vor sich selbst. Demokratische Positionierung heißt deshalb zunächst Abgrenzung gegen die globale Renaissance mittelalterli- cher Kleptokratien: Unterkomplexe Dumpfheit, imperiale Brutalität, toxische Lüge, unizivilisatorischer Affekt, sexistische Intoleranz. Was ist das Gegengift? Abwä- 2 gende, eben durchlässige, spielerische Rationalität, Graustufenkompetenz einer ambiguitätstoleranten Souveränität, moralischer Anspruch mit Vertikalspannung zum Höheren statt Vulgärkapitalismus. Die zweite Aufklärung, das ist nicht das Stück Zucker in Auflösung, kaum mehr sichtbar im grundlosen Nichts einer wertneutralen Relativität - im zivilisatorischen Sinkflug nur noch letzte Schlieren von Moral und Tugend, Urteilsvermögen zwi- schen Gut und Böse, Gemeinwohlverpflichtung, Gleichheit vor dem Gesetz, Ge- waltenteilung und Gerechtigkeit für alle. Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Toleranz ist nicht ein Treffen in der neutralen, gesichtslosen Mitte. Was soll der kleinste ge- meinsame Nenner sein gegenüber homophoben Rassisten, im Angesicht von an- tisemitischer Verachtung, Femizid und Genitalverstümmelung, der Ausrufung des patriarchalischen Kalifats eines vormodernen Gottesgnadentums, gegenüber den Oligarchien von Peking bis Teheran, von Moskau bis Washington - man versteht sich in der negativen Koalition der Willigen, vereint im apokalyptischem Rausch testosterongefluteter, uneingeschränkter Macht und grenzüberschreitender Be- sitzansprüche. Hängengeblieben, verheddert, verstrickt wie der Tiefseetaucher zwischen dem Rausch der Tiefe und dem Licht der Höhe. Er hat sich verrechnet und am Ende der panische Blick zur Oberfläche. Dort wäre die flirrende Helle, über die Grenze gehen zur Heimkunft, Auftauchen: delphinisch hinaus, sanft zurücksinken wie Apollos Kapsel nach der harten Landung, Ausstieg, atmende, befreite Ruhe, wei- ter Blick. Aber erstickt durch die Herrschaft der Angst. Luke verklemmt. Eine em- bryonale Furcht vor dem Wechsel der Lage. Erstarrung ist der Tod. Bewegung ist das Leben. Unbegrenzte Möglichkeiten. Nicht genutzt. Das gespaltene Bewusstsein von Innen- und Außenwelt und unser Leiden daran unterscheidet uns von Pflanze und Tier. Der Affe ist kein Künstler. Kunst entsteht in den Grenzen von Raum und Zeit. Das Machbare setzt das Unmachbare voraus. Kunst entsteht in den halbdurchlässigen Zellen der Kokreativität - ein- und ausat- mend an der Grenze von Künstler und Kunstwerk, Subjekt und Objekt, Zeichen und Bezeichnetem, entlang offenporiger Leitplanken und poröser Limitierungen von Pigment und Leinwand, Farbe und Pinsel, Marmor und Meißel, Saite und Tas- te, Trompete und Lippe, Material und Werkzeug, Tradition und Genie, Hardware 3 und Software. Aus dieser Begrenztheit erst entsteht das grenzüberschreitende Faszinosum. Der digitale Avatar ist unbegrenzt replizierbar. Der Terror des Schön- heitsideals ist unendlich zu klonen. Doch nicht das Austauschbare ist das Huma- num, sondern das Einmalige, nicht das Beliebige, sondern das Besondere. Nicht die Gleichheit ist das Humanum, sondern die Einzigartigkeit. Das Unikat ist das Universelle. Der Mensch ist eine instinktarme Frühgeburt und deshalb tendenziell unbegrenzt - im Höchsten wie im Tiefsten, im Schönsten wie im Ungeheuerlichsten, im Göttli- chen wie im Teuflischen, befähigt zur Mona Lisa wie zu Auschwitz. Damit er nicht zur Krebszelle der Evolution verkommt, muss er sich selbst Grenzen setzen. Die ästhetische Erziehung zur semipermeablen Grenzkontrolle ist der Humanismus des 21. Jahrhunderts.